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Literarische Erörterung: Widerstand im Ghetto

Alles zu Jurek Becker  - Jakob der Lügner

Gliederung


A Verschiedene Widerstandsformen der Neuzeit und der Juden im Dritten Reich
B Die Ambivalenz von Widerstand und Passivität im Ghetto
Geleisteter Widerstand
1. Herschel Schtamm
2. Professor Kirschbaum
3. Jakob Heym
3.1 Asyl für Lina
3.2 Suche nach Zeitungen
3.3 Fluchtversuch
3.4 Die Radiolüge
II. Passivität der Ghettobewohner
1. Akzeptanz der schweren Arbeitsbedingungen
2. Unterlassene Hilfeleistung für Frau Kirschbaum
3. Duldung der Hinrichtung Schtamms
4. Unkenntnis Rosas über ihre eigene Deportation
5. Keine Hilfe für die Juden im Waggon
6. Hinnahme der eigenen Deportation
C Sinnlosigkeit des Widerstandes

D Quellenverzeichnis
Wenn wir in der heutigen Zeit von Widerstand sprechen, verbinden wir damit etwas Positives, wie z.B. Widerstand gegen den Rassismus oder gegen den Krieg. Widerstandsgruppen agieren heutzutage nicht nur auf lokaler Ebene, sondern bemühen sich weltweit Aufmerksamkeit zu erregen um ihre Ziele erreichen zu können.
Im Gegensatz dazu beschränkte sich die Tragweite des jüdischen Widerstandes ausschließlich auf die Ghettos, in denen sie gefangen waren. Trotz ihres aufgrund der ständigen Überwachung eingeschränkten Handlungsspielraumes, versuchten Juden so oft als möglich Widerstand zu leisten unter der ständigen Angst, für das geringste Vergehen von der Gestapo hingerichtet zu werden. Trotzdem wagten es viele Juden auf unterschiedlichste Art und Weise, sich gemeinsam gegen ihre Unterdrü-ckung zu wehren.
Zum einen sei hier der kulturelle Widerstand genannt. Den Juden war es wichtig, sowohl ihre Moralvorstellungen, als auch ihre religiösen Bräuche und ihr Kulturgut zu wahren.
Zum anderen leisteten, vor allem Jugendliche, „bewaffneten Widerstand“. Sie schlossen sich zu militanten Partisanenorganisationen zusammen, beispielsweise zur FPO, der Vereinigten Partisanenorganisation des Wilnaer Ghettos.
In seinem Roman „Jakob der Lügner“ erzählt Jurek Becker die Geschichte des Juden Jakob, der mit Hilfe von frei erfundenen Kriegsinformationen, die er von einem nicht existenten Radio bezieht, seinen jüdischen Ghettomitbewohnern neue Hoffnung gibt.
Im folgendem soll nun erörtert werden, ob und inwiefern die Juden in dem Roman „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker gegenüber den Deutschen Widerstand leisten.
Zunächst möchte ich darstellen wie die Juden im Roman Widerstand zum Ausdruck bringen. Auffällig ist hierbei, dass weder Jakob, noch die anderen Ghettoinsassen direkten Widerstand, das heißt mit Hilfe von Waffen, leisten. Sie versuchen sich eher indirekt zu widersetzen, indem sie beispielsweise Regeln brechen.
Ein Beispiel dafür ist Herschel Schtamm. Unter einer Wollmütze verbirgt er seine „Schläfenlöckchen“ (S.139), die ein Zeichen seiner Frömmigkeit sind. Außerdem wagt sich der schüchterne Herschel, trotz der Androhung der Deutschen, dass es „beim nächsten Mal [knalle]“ (S.134), erneut zu dem Waggon, in welchem Juden eingesperrt sind. Er will sie ermutigen die Hoffnung nicht aufzugeben. Schtamm versichert ihnen, dass sie „nur noch kurze Zeit aushalten [müssen]“ (S.137), denn die Russen seien bereits auf dem Weg hierher um sie zu befreien (vgl. S.137). Dabei wird er von einem Posten entdeckt und erschossen (S.138ff), da er sich den Regeln des Ghettos widersetzt hat.
Die Geschwister Kirschbaum leisten passiven Widerstand. Aufgrund ihrer ehemals hohen gesellschaftlichen Position fühlen sie sich nicht mit den anderen Juden im Ghetto verbunden. Als Professor Kirschbaum von zwei Soldaten abgeholt wird um dem kranken SS-Sturmführer Hardtloff zu helfen, befolgt er diesen Befehl nur widerwillig (vgl. S.201f.). Auf dem Weg zu Hardtloff begeht er Suizid um sich dem moralischen Konflikt, seiner Pflicht als Arzt oder seinem Gewissen zu folgen, zu entziehen. Er leistet Widerstand, indem er sich weigert, das Leben von Hardtloff, der zu großen Teilen für das Leid der Ghettobewohner verantwortlich ist, zu retten.

Jakob, die Hauptperson und der Held dieses Romans, zeigt auf verschiedene Art und Weise Widerstand:
Er versteckt Lina, ein kleines Mädchen, deren Eltern deportiert worden sind, auf seinem Dachboden. Da es laut Verordnung strikt verboten ist, Juden bei sich versteckt zu halten (vgl. S.77), ist Jakobs Handeln als eine Form des indirekten Widerstandes zu bezeichnen.
Während der Arbeit sucht Jakob auf einem „Klosett“ (S.103) der Deutschen nach Zeitungsresten mit „wahren oder erlogenen Berichten über tatsächlich Geschehenes“ (S.102), um an neue Informationen für seine Radiolüge zu gelangen. Jakob geht hier ein sehr hohes Risiko ein, da ein Posten ständig vor der Tür wartet. Zu seinem Glück gelingt es ihm jedoch wieder unbemerkt mit der Hilfe Kowalskis (vgl. S.107f.) zu entkommen. Jakobs Versuch an neue Informationen für sein erfundenes Radio zu gelangen darf als Widerstand gedeutet werden, bricht doch Jakob die Regel, während der Arbeit die Arbeitsstelle nicht zu verlassen.
In dem von Becker erdachten „ordentlichen Ende“ verstößt Jakob sowohl gegen die „Verordnung Nr. 1“ (S.15), nach der jeder Jude jeweils einen gut sichtbaren, gelben Stern auf der Vorder- und Rückseite seiner Jacke beziehungsweise seines Hemdes zu tragen hat; als auch missachtet er die Regel, dass alle Juden nach acht Uhr nichts mehr auf der Straße verloren haben (vgl.S.10ff). Bei sich trägt er nur eine Zange mit der er „flink den dünnen Draht [bearbeitet]“ (S.269) um möglichst schnell die Grenze zu passieren und das Ghetto zu verlassen. Ein Posten erwischt Jakob und beendet sein Leben mit einer „[lärmenden] Salve aus einer Maschinenpistole“ (S.270). Jakob verstößt hier des Öfteren gegen die Verordnungen, wodurch er sich dem Regime widersetzt. Mit seiner Flucht und der Abnahme der Sterne verdeutlicht er, dass er als Individuum zu sehen ist und nicht nur als Teil der Judenrasse und flüchtet, da er nicht mehr länger in Gefangenschaft leben will.
Jakobs Widerstand durch die Radiolüge ist das zentrale Thema dieses Romans. Durch Zufall erfährt er von einem Radio auf dem deutschen Revier, dass die Russen bis zu „zwanzig Kilometer vor Bezanika“ (S. 14) liegen. Dies gibt Jakob die Hoffnung, dass nun auch bald das Ghetto befreit werde (vgl.S.14). Um Mischa vor einer selbstmörderischen Tat zu bewahren, behauptet er fortan, er habe ein Radio und höre die neuesten Informationen von der Front (vgl.S.26ff). Dieses Gerücht verbreitet sich schnell im Ghetto und Jakob merkt, dass seine Lüge den anderen Juden neue Hoffnung und neuen Lebensmut gibt. Viele Juden träumen nun wieder von einem Leben nach dem Ghetto, was beispielsweise an den Hochzeitsplänen von Rosa und Mischa (vgl.S.46ff) oder an der gesunkenen Selbstmordrate deutlich wird. Dennoch sind nicht alle Insassen des Ghettos von Jakobs Lüge, dass er ein Radio besitze, begeistert, wie zum Beispiel Felix Frankfurter. Herr Frankfurter hat wirklich heimlich ein Radio in seinem Keller versteckt, benutzt es aber nie. Nun hat er Angst, dass die Gestapo von Jakobs Lügengeschichte erfährt und anschließend das ganze Ghetto nach dem Radio durchsucht. Damit sie bei ihm nicht fündig werden, vernichtet er das Radio (vgl. S.60). Frankfurter ist wütend auf Jakob und bezeichnet ihn als „Trottel“ (S.58). So auch Professor Kirschbaum, der Jakob anfangs vorwirft, das gesamte Ghetto durch seine Lügen in Gefahr zu bringen. Kirschbaum ändert jedoch seine Meinung als er begreift, dass Jakobs Geschichte den Menschen hilft. Ständig schwebt Jakob in Gefahr, verraten zu werden („[u]nd auf einmal weiß es die Gestapo“ (S. 58)). Obwohl er durch dieses Radio mit seinem Leben spielt, lügt er weiter, denn „das ist es wert“ (S.75).
Als nächstes stelle ich dar, inwieweit die Juden keinen Widerstand geleistet haben und passiv geblieben sind. Die Mehrheit von ihnen hält sich an die Regeln, da es ihnen teilweise gar nicht möglich ist, Widerstand zu leisten, würden sie doch nicht nur sich, sondern auch andere gefährden.
Bei den Arbeitern am Bahnhof „fällt [Mittag] heute aus“ (S.215), weil „Hardtloff tot ist“ (S.215). Man gönnt ihnen lediglich „Zehn Minuten Pause“ (S.215). Obwohl alle unter dem Hunger leiden, bedenken sie die Aufseher nur mit „spärlichen Flüchen, Verwünschungen und bösen Blicken“ (S.215). Keiner wagt es, sich auch nur im Geringsten zu widersetzen. Niemand wehrt sich und obwohl alle am Ende ihrer Kräfte sind gehen sie nach der Pause wieder anstandslos ihrer Arbeit nach. Sie trösten und besänftigen sich mit „schlichten Scherz[en]“ (S.215) und mit der Freude über Hardtloffs Tod.
Hardtloffs Tod bringt auch für Elisa Kirschbaum unangenehme Folgen mit sich. Aufgrund der offensichtlichen Weigerung ihres Bruders, dem SS-Sturmführer zu helfen, wird Frau Kirschbaum von Nazis abgeholt. Etliche Juden „[g]önnen [sich] eine freiere Sicht, [und] begeben [sich] auf die Straße“ (S.242f), aber kein einziger wagt es zu helfen, nicht einmal als Frau Kirschbaum zu Boden fällt (vgl. S.243f.). Alle sehen nur zu und verhalten sich passiv. Niemand hat den Mut sich für sie einzusetzen und Widerstand zu leisten. Jeder ist insgeheim froh, dass er es nicht ist, der eben auf der Straße zur Schau gestellt und gedemütigt wurde.
Als Herschel Schtamm die eingeschlossenen Juden ermutigt weiter zu machen, entdeckt Jakob wie „ein Gewehr (…) in aller Seelenruhe eingerichtet [wird]“ (S.138). Jakob steht reglos da und „[schließt] die Augen“ (S.139). Jakob macht sich schreckliche Vorwürfe, denn „seine Radiolüge hat Herschel zum Heldentum verleitet“. Danach versucht er sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, denn „was hätte [er] schon machen sollen (…), schreien höchstens, aber was hätte das genutzt?“(S.139).
Im Lauf der Handlung kommt es immer wieder dazu, dass ganze Viertel leer geräumt werden, um die dort wohnenden Juden in KZs zu deportieren. So ist auch eines Tages die Straße von Rosa und ihren Eltern betroffen. Rosa hat, was sie nicht weiß, für den Abtransport frei bekommen. Mischa durchschaut die Situation, verheimlicht dies jedoch Rosa gegenüber. Vom Fenster aus sieht Rosa wie Leute aus ihrer Straße abtransportiert werden. Bald wird ihr bewusst, dass auch ihre Eltern dabei sein müssen. Mischa wirft sie zu Boden, vom Fenster weg, damit sie nicht gesehen wird. Er hat Rosa gerettet aber ihre Eltern hat er nicht gewarnt, obwohl dies wahrscheinlich für ihn möglich gewesen wäre.
An dem Tag, als Herschel Schtamm erschossen wird, ist den jüdischen Bahnhofsarbeitern bewusst, dass sich in dem abgestellten Waggon (vgl.S.134ff) Juden befinden, die „sie (…) in die Lager [schicken]“ (S.136). Fast niemand wagt sich auch nur in die Nähe des Wagens außer Herschel, da allen klar ist, dass „[d]ieser Waggon nicht angerührt wird“ (S.133). Anstatt zu helfen und die zu deportierenden Juden aus ihrem Transportmittel in den Tod zu befreien, arbeiten alle anderen weiter oder schauen nur zu. Keiner widersetzt sich dem Befehl des Postens, weil sie alle Angst haben, plötzlich selbst deportiert oder eben gleich erschossen zu werden.
In dem „nichtswürdigen“, „wirkliche[n] und einfallslose[n] Ende“ (S.272) werden auch noch die restlichen Juden deportiert. Diese hoffen, dass sich „jemand zwischen [sie] und das Unglück zu stellen vermag“ (S.273). Niemand traut sich, Widerstand zu leisten. Von den Nazis eingeschüchtert und verunsichert steigen alle anstandslos in den Waggon. Für die Juden ist dies eine Fahrt ins Ungewisse, vielleicht in den Tod oder nur in ein neues Gefängnis.
Um auf die einleitende Frage, ob die Juden in „Jakob der Lügner“ Widerstand leisten, zurückzukommen, stelle ich fest, dass dieser im Roman im Allgemeinen nicht zu beobachten ist. Zeichen aktiven Widerstandes bleiben Taten einzelner, der Großteil der Ghettobewohner beschränkt sich darauf nur zuzuschauen und passiv zu bleiben. Jedoch bleibt für mich die Frage, inwieweit die Juden überhaupt Widerstand hätten leisten können oder ob dieser einen Sinn gehabt hätte, weiterhin bestehen. Das durchorganisierte Regime des Dritten Reiches duldete in keinster Weise eine Missachtung der Gesetze oder Verordnungen. Dieser ausgeprägte, ja überzogene Rechtspositivismus hatte keinen Platz für das Menschliche; so wurde jeder, insbesondere wenn er Jude war, der sich diesem widersetzte, mit dem Tode bestraft. Insoweit muss man sich fragen, welchen Sinn der Widerstand überhaupt gehabt hätte, wäre er doch wahrscheinlich sofort blutig niedergeschlagen worden. Auch ich bin der Meinung, dass sich die Ghettobewohner in ihrer Situation richtig verhalten, denn es ist besser, sich jede Minute seines Lebens noch an die Hoffnung zu klammern, vielleicht doch noch gerettet zu werden, als in Form von sinnlosem Widerstand mehr oder weniger in den Freitod zu gehen.
D Quellenverzeichnis
Becker, Jurek: Jakob der Lügner. Berlin und Weimar: Suhrkamp Taschenbuch, 1982
Kutzmutz, Olaf: Lektürenschlüssel für Schüler - Jakob der Lügner. Stuttgart : Philipp Reclam jun., 2004
Zierlinger, Ursula: Lektüre - Durchblick - Jakob der Lügner. München: Mentor Verlag, 1995
Matzkowski, Bernd: Erläuterungen zu "Jakob der Lügner". Hollfeld: Bange Verlag, 2001
http://www.zeitungs.gedenkdienst.at (diverse Dossiers)
http://www.juden-in-europa.de (diverse Dossiers)
http://www.zeitungs.gedenkdienst.at/index.php?id
http://www.juden-in-europa.de/baltikum/vilna/widerstand.htm
Zierlinger: Lektüre Durchblick - Jakob der Lügner; S. 20
Zierlinger: Lektüre Durchblick - Jakob der Lügner; S. 17
Zierlinger: Lektüre Durchblick - Jakob der Lügner; S. 20
Inhalt
THEMA: „Und der Widerstand, wird man fragen, wo bleibt der Widerstand ? [...] Kein einziger gerechter Schuss hat sich gelöst, Ruhe und Ordnung sind streng gewahrt worden, nichts von Widerstand.“ (S.98) - Nehmen Sie kritisch zu dieser negativen Bewertung des Verhaltens der Ghettobewohner gegenüber den Deutschen durch den Erzähler Stellung! (1968 Wörter)
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